Geschichte und Bedeutung des Friedhofs

Als erster Jüdischer Friedhof auf dem heutigen Berliner Stadtgebiet wird der in Spandau gelegene “Juden-Kiewer” 1324 urkundlich erwähnt. 1510 wird er zerstört und die Grabsteine teilweise zum Bau der Zitadelle verwendet. Erst 1672 kann in der Großen Hamburger Straße ein zweiter jüdischer Begräbnisplatz angelegt werden, der 1827 voll belegt ist und gesperrt wird. Während des Zweiten Weltkrieges wird er weitgehend zerstört. Als dritten jüdischen Friedhof weiht die Jüdische Gemeinde zu Berlin 1827 die Begräbnisstelle an der Schönhauser Allee am Prenzlauer Berg ein. Durch die stark angewachsene Gemeinde zeichnet sich schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts die baldige Vollbelegung ab. Daher erwirbt die Jüdische Gemeinde um 1875/76 ein circa 40 Hektar großes Gelände an der Lothringenstraße (heute Herbert-Baum-Straße) in Weißensee. Hier entsteht der vierte Jüdische Friedhof in Berlin.

Im Frühjahr 1878 wird ein Wettbewerb für die Gestaltung des neuen Friedhofes ausgeschrieben. Teilnahmeberechtigt sind die Mitglieder des Berliner Architektenvereins. Abzugeben sind Entwürfe für einen Lageplan, ein Leichenhaus, eine Feierhalle, ein Dienstgebäude, eine massive Einfriedung mit Einfahrtstor und eine Portierswohnung. In einem Kostenüberschlag ist nachzuweisen, dass die Gesamtkosten von 150 000 M nicht überstiegen werden. Als Preisrichter fungieren für die Jüdische Gemeinde: Professor Moritz Lazarus, Rentier Julius Meyer, Maurermeister Fränkel und Baumeister Landsberg. Für den Architektenverein richten Baurat Friedrich Hitzig, Baurat Hermann Ende und Baumeister Johannes Otzen. Insgesamt beteiligen sich 25 Architekten am Wettbewerb, es kann jedoch kein Entwurf direkt zur Ausführung empfohlen werden. Die Entwürfe der Teilnehmer Bernhard Kühn, Hugo Licht und Matthias v. Holst bekommen den Preis zu je 1/3 zugesprochen und werden zu einem 2. Wettbewerb untereinander geladen. Aus diesem geht der Architekt Hugo Licht als Sieger hervor.

In den folgenden Jahren 1879/80 lässt die Jüdische Gemeinde die Trauerhalle, das Leichenhaus und das Bürogebäude am Eingang an der Lothringenstraße nach dem Entwurf von Hugo Licht aus gelbem Backstein erbauen. Weiter wird ein WC-Gebäude, ein Wasserturm und das Eingangstor ebenfalls nach den Plänen von Hugo Licht errichtet. Als Bauleiter ist der Architekt Freytag beauftragt, die Maurerarbeiten führt die Werkstatt des Maurermeisters Moritz Landé durch und das schmiedeeiserne Tor wird von der Kunstschmiede M. Fabian ausgeführt. Am 9. September 1880 kann die Einweihungsfeier mit 200 geladenen Gästen stattfinden, die erste Beisetzung (Louis Grünbaum) findet am 22. September desselben Jahres statt.

Zunächst wird nur die nördliche Hälfte des Geländes mit den Friedhofsgebäuden und dem Wegesystem angelegt. Die Grabfelder sind in Dreiecke, Rechtecke oder Trapeze gegliedert, die Kreuzungen der Hauptwege als Kreis, Quadrat oder Oktogon ausgebildet. Dieser älteste Bereich ist gestalterisch am vielfältigsten, später angelegte Abteilungen bestehen fast nur noch aus aneinandergereihten Rechtecken. Die Verbindungswege werden alleeartig bepflanzt. (u.a. Spitz-Ahorn, Winter-Linde, Trauben-Eiche, Kreuzdorn, Baum-Hasel,Ulme, Platane)

In den folgenden Jahren werden die Friedhofsgebäude um einige kleinere Bauten ergänzt. Dies sind 1887 ein Gewächshaus, 1892/93 eine Blumenhalle am Eingang Lothringenstraße und 1906 eine Treibhausanlage. Seit 1901 wird der Arkadengang zur Trauerhalle teilweise verglast. Um die weiten Wege auf dem großen Friedhofsgelände für die Trauernden abzukürzen und auch um zwei Bestattungen parallel stattfinden zu lassen, folgt 1910 die Errichtung einer zweiten Trauerhalle in der Friedhofsmitte.

Vor der am 13. Januar 1911 eingeweihten neuen Trauerhalle liegt ein circa ein Hektar großes Gelände brach. Hier soll die noch von James Hobrecht 1861 festgelegte Trasse der Straße 16 a das Friedhofsgelände durchqueren. [Anm.: Gleiches gilt für die im Plan von 1912 eingezeichnete Kniprodestraße: Das 1921 teilvermessene und an die Gemeinde übertragene Gelände, wird erst 1988 wieder an die Jüdische Gemeinde zur dauernden Nutzung für Friedhofszwecke zurück übertragen.] 1912 wird an der neuen Trauerhalle eine Warte- und eine Blumenhalle nach den Plänen des Architekten Adolf Sommerfeld erbaut.

Der Jüdische Friedhof in Weißensee spiegelt in besonderer Weise die Geschichte der Juden in Deutschland wider. Diese suchten einerseits gesellschaftliche Anerkennung und mühten sich andererseits, ihre Traditionen zu bewahren. Auf traditionellen jüdischen Friedhöfen wird die Gleichheit der Menschen im Tode durch gleich hohe, schmucklose Grabsteine symbolisiert. Die einfachen Steine bewirken mit ihrer beruhigenden Monotonie eine schlichte Monumentalität als Gesamteindruck. Weiterhin ist die Grabstätte im jüdischen Glauben unantastbar und wird folglich nicht neu belegt. Auf dem Friedhof in Weißensee besteht ebenfalls ewiges Ruherecht, aber in der Gestaltung der Grabstätten übernehmen die sich assimilierenden Juden die zu Wilhelminischen Zeiten auf deutschen Friedhöfen übliche, überladene Gestaltung. Traditionelle schlichte Grabsteine stehen neben prachtvollen Grabstätten aus geschliffenem und poliertem Stein.

Die Grabstätten werden in Erbbegräbnisse, Wahl- und Reihengräber eingeteilt, an den Rondellen und Wegen errichtet man Familiengräber, dahinter schließen sich Reihengräber an. Entgegen dem jüdischen Bestattungsritual finden auf dem Friedhof in Weißensee ab 1909 erste Aschenbeisetzungen statt. Die Asche wird zunächst nicht in Urnen, sondern in Särgen auf den üblichen Feldern beigesetzt.

Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges lässt die Jüdische Gemeinde 1914/15 hinter der neuen Trauerhalle einen Krieger-Ehrenhof für die gefallenen und noch fallenden jüdischen Soldaten nach einem Entwurf des Gemeindebaumeisters Alexander Beer anlegen. Das 49 Meter breite und 90 Meter lange Gelände steigt nach Osten stark an. Der dadurch terrassenförmig angelegte Hof wird durch eine zwei Meter hohe Mauer aus Rüdersdorfer Kalksteinen zu einem Raum geschlossen. Die zu Reihen zusammengefassten Grabhügel werden von einer wellenförmig angelegten Efeudecke überzogen. Von einem Heckenmassiv umrahmt, breitet sich auf der oberen Plattform ein Rasenteppich aus, der zur Aufnahme eines Kriegerdenkmals bestimmt ist. Umsäumt ist der Ehrenhof durch hochragende Pyramidenpappeln, an der Innenseite der Mauer werden Fliederhecken gepflanzt. Die Grabsteine lehnen sich als Kopfsteine aus Muschelkalk gegen die Hügelwangen, im oberen Halbrund sind die Steine in die Mauer eingelassen. Später wird hinter dem Feld eine Gedenktafel für neun russische Soldaten jüdischen Glaubens angebracht, die während des Ersten Weltkrieges in deutscher Gefangenschaft starben. Insgesamt sind auf dem Feld 394 Ruhestätten angelegt.

Am 1. Juni 1924 öffnet der neu geschaffene zweite Eingang am Weißenseer Weg (heute Indira-Gandhi-Straße), der den neueren Friedhofsbereich erschließen soll. Ab 1926 wird auf dem Jüdischen Friedhof die Asche nicht mehr in Särgen beigesetzt, sondern erste Urnenfelder eingerichtet. Dem Bestattungswesen des Friedhofes, das einer 18köpfigen Friedhofskommission der Gemeinde untersteht, gehören zu dieser Zeit 67 Beamte und Angestellte, darunter 15 Sargträger, Gruftmacher, Taharafrauen u.a.m. an. 201 weitere Arbeitskräfte sind in der Gärtnerei des Friedhofes und den Pflegebereichen beschäftigt.

Erst am 27. Juni 1927 findet die Einweihung des bereits 1914 im Ehrenhof vorgesehenen Ehrenmals für die im Ersten Weltkrieg gefallenen 12 000 deutschen Juden statt. Der Entwurf stammt wie der Ehrenhof selber von Alexander Beer. Die Aufschriften auf dem Ehrenmal lauten: “Ihren im Weltkrieg gefallenen Söhnen. Die Jüdische Gemeinde zu Berlin” Auf der Schmalseite ist in Hebräisch eingraviert: “Mächtig wie der Tod ist die Liebe” (aus dem Hohen Lied), die Rückseite ist mit dem “Wappen” des “Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten” (RjF) zum Gedenken an die gefallenen Kameraden geschmückt.

Um 1939/40 wird der Friedhof als gärtnerische Ausbildungsstätte für ausreisewillige jüdische Jugendliche genutzt, während des Krieges dient er einigen untergetauchten Juden als Unterschlupf. Den Zweiten Weltkrieg übersteht der Jüdische Friedhof in Weißensee fast unbeschadet. Die neue Trauerhalle und die Gewächshäuser werden zwar zerstört und 68 Bombeneinschläge beschädigen etwa 4.000 Grabstellen, von den Verwüstungen durch die Nazis bleibt der Friedhof jedoch weitgehend verschont. 1941 legt die Friedhofsverwaltung ein Urnensonderfeld mit den Urnen von 283 ermordeten ehemaligen KZ-Häftlingen an. Am 11. Mai 1945 findet in einem Raum des Friedhofsgebäudes der erste öffentliche jüdische Gottesdienst nach der Kapitulation statt.

1949 erfolgt die Exhumierung der Leiche des antifaschistischen Widerstandskämpfers und Kommunisten Herbert Baum auf dem Friedhof in Marzahn und seine Beisetzung auf dem Friedhof in Weißensee. Die Lothringenstraße wird in Herbert-Baum-Straße umbenannt. Im Eingangsbereich des Friedhofes entsteht in den 1950er Jahren ein Mahnmal zum Gedenken an die 6 Millionen jüdischen Opfer der faschistischen Verfolgung. Während die Gedenksteinenthüllung des in der Mitte platzierten Granitsteines schon 1953 stattfindet, werden die kreisförmig angeordnet liegenden Steine mit den Erinnerungstafeln aller großen Konzentrationslager erst 1958 eingeweiht.

Seit dem Krieg werden auf dem Jüdischen Friedhof immer wieder Grabmale geschändet. Besonders geschieht dies in den Jahren 1950 (16 Grabdenkmale), 1959, 1971 (etwa 80 Grabmale) und 1992 (55 Erbbegräbnisstätten stark beschädigt). Die Ruine der im Kriege beschädigten zweiten Trauerhalle wird 1980 teilweise abgetragen und an ihrer Stelle ein Erdhügel aufgeschüttet. Ebenfalls 1980 wird eine Inschrifttafel für die Beisetzungsstätte der etwa neunzig, 1938 geschändeten Thorarollen aufgestellt. Seit 1977 sind die Gebäude und die Anlage des Jüdischen Friedhofes Weißensee eingetragenes Bau- und Gartendenkmal.

Besonders hervorzuheben ist das 900 Bände umfassende Beisetzungsarchiv, das auf dem Friedhof seit der Einweihung 1880 komplett erhalten ist. In den Jahren 1992 bis 1994 restauriert und verfilmt, bietet es eine wertvolle Quelle für Ahnenforschungen. Bis heute erreichen die Friedhofsverwaltung diesbezüglich Anfragen aus dem In- und Ausland.

Text: Katrin Lesser, Garten- und Landschaftsarchitektin